In Memoriam Gerhard Hartig (11. März 1922 - 25. Dezember 2007)

Schon seit vielen Jahren habe ich nach Informationen über den Schauspieler Gerhard Hartig (1922-2007) gesucht, von dem im Internet nicht einmal das Sterbejahr zu finden ist. Die einzigen Angaben über sein umfangreiches Filmschaffen liefert die Filmdatenbank IMDb. Ich habe Gerhard Hartig immer gerne im Fernsehen gesehen, da er, obwohl er häufig nur als Nebendarsteller besetzt wurde, ein Schauspieler war, dem man jede Rolle abnahm und der besonders für die Rolle des "kleinen Mannes" prädestiniert schien. Um so mehr freue ich mich, dass ich zumindest auf meiner Website an diesen offenbar sehr liebenswerten Schauspieler erinnern kann.

Durch Zufall bin ich vor einigen Monaten im Netz auf ein Interview mit dem ehemaligen Profiboxer Lukas Schulz gestoßen, der Gerhard Hartig dort als eine Art "Ziehgroßvater" bezeichnet. Ich habe mich darauf hin mit Lukas Schulz in Verbindung gesetzt, wir haben uns getroffen und ich habe von ihm einige Infos über Gerhard Hartig erhalten können, unter anderem den Text anlässlich dessen Beisetzung am 4. Januar 2008 auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf.

Diesen Text möchte ich hier unkommentiert hineinstellen, lediglich einige Rechtschreibfehler wurden von mir verbessert. Im Anschluss daran folgen noch persönliche, weitergehende Anmerkungen von Lukas Schulz.


Freitag der 04.01.2008

Wir haben uns heute hier versammelt, um unseren geliebten Gerd Hartig ein letztes Mal als Ehrengast zu feiern.

Gerd hat die Bühne der Erde verlassen. Er ist ausgezogen aus dem Haus der Schatten und gleichzeitig ist er eingezogen in den Garten der Geister. Zuhause bei Gott...

Gerd wurde am 11. März 1922 als Sohn des Möbel- und Kunsttischlers Willy Hartig und der Hutmacherin Gertrud Hartig in Berlin geboren. Er selber bezeichnete sich als ernsthaftes Kind, das früh auffiel durch seine sprachliche Gewandheit.

Die Freundschaft, die Gerds Vater mit dem aus Armenien stammenden Weisheitslehrer Georg Iwanowitsch Gurdijeff verband, war für Gerd etwas ganz besonderes. Gurdjieff hat Gerds Leben geistig immer begleitet und entscheidend geprägt. Laut Gerds Vater hat Gurdjieff, der weltweit bekannte Weisheitslehrer, Gerd im Alter von 2 Jahren auf dem Schoß geschaukelt und ihn gesegnet.

Als Gerd fünf Jahre alt war, wurde ein Regisseur auf ihn aufmerksam, in der Tischlerwerkstatt seines Vaters. Er bekam die Rolle als Mädchen in einem großen Ufa-Film mit Emil Jannings. Dieses war der Anfang von Gerds Bühnen-, Film- und Fernsehkarriere.

Als junger Mensch wurde Gerd im Krieg zur Marine eingezogen. Von den grausamen Erlebnissen des Krieges hat Gerd sich seelisch niemals wirklich erholt. Im Auftrag für Admiral Canaris in geheimer Mission für den Widerstand, war Gerd an Bord eines Schiffes in Asien. An Bord dieses Schiffes befanden sich viele Frauen, die in Sicherheit gebracht werden sollten. Darunter waren 12 Hochschwangere... In den Stunden der Entbindungen half Gerd tatkräftig. Aus Dankbarkeit erhielten diese Kinder - egal ob Junge oder Mädchen, als Erst- oder Zweitnamen - den Namen ihres Geburtshelfers. Gerhard.

In den 50er Jahren arbeitete er an Boulevardtheatern in Berlin und Hamburg oder im Schauspielhaus in Hamburg. Unter Gustaf Gründgens' Regie im Operettenhaus in Hamburg spielte er lange Zeit "Im weißen Rössl" verschiedene Rollen. Mit der Komikerin und sogenannten Quasselstrippe Gisela Schlüter tourte er durch Deutschland mit einem Kabarettprogramm. Die 60er Jahre waren geprägt durch viele Filme von Jürgen Roland, in denen er hauptsächlich Kommissare und Gauner spielte. Hier sind vor allem die "Stahlnetz"-Filme und "Tatorte" zu nennen. Gerd spielte auch in dem Film "Zieh den Stecker raus, das Wasser kocht", der unter der Regie von Ephraim Kishorn im ZDF lief. Genauso drehte Gerd mit dem berühmten Regisseur Wolfgang Staudte den Film "Herrenpartie".

In den 70ern bis in die 90er drehte Gerd unter der Regie von Dieter Wedel unter anderem die Filmserie "Nur einmal im Leben". Gerd arbeitete als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller. So entstand der Slappstick-Kinofilm "Wer einmal in das Posthorn stößt" zusammen mit Helga Feddersen.

Unter der Regie seines persönlichen Freundes Markus Scholz spielte Gerd in Filmen zusammen mit Inge Meysel, der gerade erst verstorbenen Evelyn Hamann und Helga Feddersen. In Paris mit Marcello Mastroianni. Dies sind nur einige Namen, die Vielfalt der sonstigen Filme sind nicht zu nennen, sind aber im Internet aufgeführt.

Als Schauspieler war Gerd der uneitelste, den man sich vorstellen kann. Er überließ jedem Mitspieler gerne die Großaufnahme und nur auf ausdrückliches Geheiß des Regisseurs stellte er sich in den Vordergrund. Auf der Bühne füllte selbst sein leisestes Flüstern noch den ganzen Saal... So groß war seine Präsenz.

Da gibt es auch ein Ereignis, von dem Gerd sagte, dass es mit zu seinen größten Erlebnissen gehörte: Nämlich das Zusammentreffen mit dem großen Geiger Yehudi Menuhin. Während der gemeinsamen Dreharbeiten, in dem Yehudi Menuhin sich selbst darstellte, hat er im Maskenraum ganz alleine für Gerd auf seiner Geige gespielt.

Soviel zu seinem Werdegang und Wirken... Aber was machte den Menschen Gerhard Hartig aus? Gerd hatte eine große Liebe zu Katzen. Manchmal lebten gleich 20 Katzen mit ihm. Diese sensiblen Tiere spürten sofort "hier kommt ein liebender Mensch", sie liefen ihm nach und blieben, wo immer sie auf ihn trafen.

Gerd betätigte sich intensiv in der Hamburger Jugend- und Sozialarbeit... so war Gerd für viele verwahrloste und einsame junge Menschen der einzige wahrhaft liebende Gesprächspartner, Zuhörer, Tränen-Trockner und Ersatzvater. Mit jüngeren Menschen tauschte er sich gerne aus, weil er sich selbst im Herzen so jung fühlte und viel Verständnis für die Belange der jungen Menschen empfand.

Gerd unterstützte auch aktiv in Worten und Briefen spirituelle Lebensgemeinschaften, wie das schottische Findhorn oder das indische Auroville. Gerd fühlte sich als Sufi, was einer bestimmten geistigen Ausrichtung entspricht. Genauso hatte er seine Leidenschaft für Sport, insbesondere für Fußball und Boxen.

Das war Gerds Welt. Die Kommunikation mit anderen Menschen. Mit jedem Nachbarn hatte er ein nettes Verhältnis und für jeden hat er sich eingesetzt. Besonders die Kinder der Nachbarschaft fühlten sich bei ihm zu Hause. Alle wurden von ihm menschlich erkannt und nach all seinen Kräften gefördert.

Gerd fühlte sich als Bürger einer einzigen Welt - und unterstützte Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Sein häufigster Ausspruch war: "Wir brauchen die 10 Gebote nicht, wenn nur jeder alles was er tut, aus Liebe und in Liebe tut.“ Gerd war außerdem ein ganz großer Lebenskünstler und ein absoluter Bücherfreund. Seine ganze Wohnung war rundherum mit gefüllten Bücherregalen tapeziert... All diese Bücher hat er auch gelesen und sein Wissen an andere weitergegeben.

Gerd, der Lebenskünstler in seiner eigenen Lebensgeschichte. Eine Geschichte weit weg vom Star-Ruhm. Mit all den Großen hat Gerd an einem Tisch gesessen und Partys gefeiert. Gelebt hat Gerd immer von der Hand im Mund und immer nur auf Kredit.

Für einen freien Schauspieler wie Gerd einer war, ist das Leben wie ein Pingpongball, immer rauf und runter. Wenn ein Angebot kam, freute er sich, weil er wusste, das sichert ein Stück Überleben. Dann hockte er wieder in seiner Wohnung und wartete. Diese Folter des Wartens... Gerds Leben verlief auf einem Drahtseil, und er hatte immer den Abgrund vor Augen...

Aus diesem Grund ist es Gerd millionenfach mal mehr anzurechnen, dass er Menschen, wie mir auch finanziell immer wieder weitergeholfen hat. Um mir und vielen anderen diese Unterstützung geben zu können, nahm Gerd Kredite bei anderen Menschen auf.

Geliebter Gerd - mein Herz dankt Dir tausendfach für alles das was Du getan hast!!! Trotzdem erwähne ich auch Deine Schwächen. Du warst ganz und gar nicht macken- und meisenfrei. Du konntest ganz schön lospoltern und so hast du manches mal verletzend deine Meinung gesagt. Du konntest deinem Ärger immer gut Luft machen, was für andere teilweise echt schockierend war. Du meintest es zwar immer gut, aber es kam nicht immer so an.

Es sei Dir verziehen - von ganzem Herzen. Ich liebe Dich. Dein Körper ist zwar nicht mehr da, aber Du hast mich nie verlassen. Du bist ganz tief in mir drin... mein Herz dankt Dir tausendfach dafür

Soweit der Text der Andacht. Wie ich von Lukas Schulz erfahren konnte, erfolgte Hartigs im Andachtstext erwähnter erster Filmauftritt in F. W. Murnaus Stummfilm "Faust - Eine deutsche Volkssage" - als Chormädchen. Bei dem erwähnten Zusammentreffen mit Yeduhi Menuhin handelte es sich um den Film "Sabine und die 100 Männer" aus dem Jahr 1960.

Des weiteren habe ich - wie oben angemerkt - von Lukas Schulz weitere interessante und wertvolle Informationen über Gerhard Hartig erhalten.

Seine Urgroßeltern haben die SPD mitgegründet. Sein Großvater väterlicherseits war ebenfalls Kunsttischler und hat bei der Weltausstellung 1900 in Paris den ersten Preis in der Kategorie "Kunsttischlerei" gewonnen; eine Tür im Hamburger Michel stammt von ihm.

Hartig war mit seiner damaligen Lebensgefährtin Sigrid Baltrusch Gründungsmitglied der "Grünen". In den Räumen von “Mechthild Scheffer“ (Eppendorfer Landstraße 32) trafen sie sich zum Gedankenaustausch. Gerd war es wichtig, den “grünen Gedanken“ ins politische Bewusstsein zu bringen. Nachdem die Partei aufgebaut war, trat er aus - das Propagieren der “Kinderfickerei“ wurde denen zu viel...

Hartig wuchs in der Berliner Wilhelmstraße auf und erlebte als Kind die politischen Unruhen und Demonstrationen zwischen den unterschiedlichen Lagern hautnah mit: Kommunisten, Nazis, Sozialisten.

Großes Interesse hatte Gerd Hartig auch am Sport, hier zu nennen insbesondere Motorsport, Fußball und Boxen. Den Boxsport übte er selber aus, später stieg er als Sparringspartner mit Profis gelegentlich in den Ring, so unter anderem mit Bubi Scholz (den er nicht mochte, wenngleich er ihn für seine Erfolge schätzte). Hartig meinte von sich, er habe ein sehr gutes Auge und eine gute Reaktion gehabt und es geliebt, den Schlägen auszuweichen. Das Problem war nur, dass er ungern zuschlug und lediglich Gefallen am Ausweichen fand. Laut Lukas Schulz war es einmal so, dass ein Profiboxer zu ihm sagte: "Heute werde ich dich treffen, heute mach' ich dich alle", und da Hartig Leute mit einer solchen Einstellung hasste, schlug er ihn gleich zu Beginn "versehentlich" in einen bei Männern extrem empfindlichen Körperteil und das Sparring war beendet.

Während des 2. Weltkriegs war Hartig auf mehreren Kriegsschiffen unterwegs. Auf einem zivilen Schiff auf dem Weg nach Japan, hatte er einen geheimen Auftrag zu erfüllen. Er musste einen 27 Seiten langen und codierten Text überbringen. Diesen hatte er zuvor auswendig gelernt. Er bestand aus Buchstaben und Zahlen in nicht logischem Zusammenhang (keine Worte, kein Sinn). Er wusste dabei nicht, worum es ging. Ein anderer Mann an Bord hatte diesen Text auch gelernt, so sollte die größtmögliche Sicherheit bei der Wiedergabe gewährleistet sein.
Bei den schwangeren Frauen handelte es sich um Japanerinnen. Was für ein Schiff es war und weshalb die Frauen an Bord waren, konnte leider nicht in Erfahrung gebracht werden. Aus Dankbarkeit für Hartigs Fürsorge erhielten alle Kinder als zweiten Vornamen den Namen Gerd, egal ob es sich um Jungen oder Mädchen handelte.

Nach dem Krieg zog die Familie nach Hamburg, wo Hartig in verschiedenen Berufen arbeitete, unter anderem als Kellner, als Hausmeister und im Hafen. Als er sich wieder der Schauspielerei zuwandte, pendelte er zunächst zwischen Hamburg und Berlin hin und her. Hartig war auch Kneipier und hatte mit seiner damaligen Lebensgefährtin zunächst eine Gaststätte in Berlin, später dann in Hamburg-St. Pauli auf der Großen Freiheit. Neben den in der Andacht erwähnten Bühnen spielte Hartig auch am Hamburger Klecks-Theater.

Bemerkenswert an der schauspielerischen Laufbahn von Gerhard Hartig sei noch erwähnt, dass er nie eine Schauspielschule besucht hat, da er nach Aussage von Lukas Schulz nichts von Zeugnissen oder Bescheinigungen hielt. Leider konnte ich deshalb auch nicht in Erfahrung bringen, wie Hartig letztendlich zur Bühne und zum Fernsehen gelangen konnte.

Hartig hatte im Laufe seines Lebens mehrere Beziehungen und war zweimal verheiratet. Aus seiner erster Ehe gingen zwei Kinder hervor: Joachim und Ingolf. Ingolf starb an Leukämie im Alter von 39 Jahren, er hatte in einem Chemiewerk gearbeitet.

Mit einer seiner Lebensgefährtinnen, Marianne Nebel, spielte Hartig gemeinsam in dem von ihm produziertem Film "Wer einmal in das Posthorn stößt". Hartig produzierte mehrere Filme. Er selbst befand diesen Film als nicht gut. Ein Budget habe nicht zur Verfügung gestanden, so konnte jede Szene nur einmal gedreht werden. Seine anderen Filme wurden von einer Schweizer Firma gekauft und verschwanden von der Bildfäche.

Hartigs Wissen soll laut Lukas Schulz immens gewesen sein. Man habe ihn zu nahezu allen Themen fragen können – Hartig habe die Antwort gewusst. Auch bei Günther Jauchs "Wer wird Millionär" habe er fast alle Fragen beantworten können.

Mit seiner letzten großen Liebe, der Regieassistentin Sigrd Baltrusch, war Hartig seit 1976 zusammen und lebte zuletzt im Hamburger Stadtteil Fuhlsbüttel. Er litt lange schon an Diabetes, bereits 1986 wurde der große Zeh amputiert, es folgten weitere Zehen, schließlich beide Füße. Am 25. Dezember 2007 starb Hartig im Hamburger Krankenhaus Heidberg an den Folgen seiner Krankheit und wurde anonym auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf beigesetzt.

Soweit die zusätzlichen Angaben von Lukas Schulz. Ich werde weiterhin mit ihm Kontakt halten, möglicherweise kann er noch weitere Informationen aus dem Umfeld Gerhard Hartigs bekommen.

Sein filmisches Schaffen führe ich hier nicht extra auf, man kann es bei IMDb nachlesen. Laut Lukas Schulz sind die dortigen Einträge unter "Gerd Hartwig" und "Gert Hartig" ebenfalls mit Gerhard Hartig identisch. Hier sind die dazugehörigen Links:
Gerhard Hartig, Gerd Hartwig, Gert Hartig.